Die Berliner Ärztin Jenny De la Torre (links) verbindet einem Obdachlosen die
verletzte Hand. Fotos: epd/npw
Was auf sie zukommen sollte, ahnte die Ärztin nicht. "Nach dem ersten Treffen
mit Obdachlosen war ich entsetzt, in welch verwahrlostem Zustand diese Menschen
auf der Straße leben müssen." Ihr erster Arbeitsplatz war ebenfalls
abschreckend: ein fensterloser Raum in den Katakomben des Ostbahnhofs. Ganz
unten, ganz hinten, so als schäme sich die Stadt für ihre Obdachlosen oder wolle
diesen zeigen, daß sie an der Endstation angekommen sind.
Doch Jenny De la Torre ist trotz ihrer kleinen Statur niemand, der sich leicht
abschrecken läßt. Und die Obdachlosen danken es ihr mit jedem Tag. "Es sind
Menschen, die sich scheuen, eine normale Praxis aufzusuchen, und sich oftmals
nicht mehr trauen, fremde Hilfe anzunehmen", hat sie erfahren.
Nach den vielen Jahren kostet die Arbeit auch keine Überwindung mehr.
Überwindung, die etwa im Umgang mit alkoholisierten Patienten notwendig war.
Dieses Problem kannte sie nicht und glaubte auch nicht, damit umgehen zu können.
Doch dann nahm sie sich vor: "Du mußt die Menschen annehmen, wie sie sind. Sie
haben sich dieses Leben schließlich nicht ausgesucht."
Mittlerweile hat Jenny De la Torre Erfahrungen gesammelt und sich auf die
Besonderheiten ihrer Praxis eingestellt. Viele ihrer Patienten leiden an
Grindflechte, Beinödemen und chronischer Bronchitis - typischen Erkrankungen des
Straßenlebens.
Bei der Wahl der Therapieform muß sie sich überlegen, ob diese unter
Straßenbedingungen durchführbar ist. Bäder oder Bettruhe fallen da aus, mitunter
auch eine notwendige regelmäßige medikamentöse Therapie. Ein Verband muß in der
Regel eine Woche halten, weil die Ärztin nie sicher sein kann, daß ihre
Patienten wirklich am nächsten Tag zum Wechseln wiederkommen. "Ich muß flexibel
sein und die Therapie sehr individuell festlegen." Diese richtet sich häufig
nicht nur nach dem Krankheitszustand, sondern auch nach dem Willen der
Patienten.
Obdachlose seien sehr empfindlich, wenn sie sich gedrängt oder bevormundet
fühlen, so De la Torre. Die Ärztin erklärt dann geduldig, warum diese Wunde so
aussieht oder warum sie nicht heilt. "Wenn meine Patienten das verstehen, machen
sie auch mit." Meistens jedenfalls. Oft muß die Obdachlosen-Ärztin mit kleinen
Tricks und mit Humor arbeiten. Etwa, wenn ein Obdachloser auch beim dritten
Anlauf die besorgte Unterkunft angeblich nicht gefunden und lieber wieder im
kalten S-Bahn-Wagen geschlafen hat. "Dann sage ich, dort schlafe ich heute auch,
das muß ja toll sein. Darüber muß der Patient lachen, und er geht vielleicht zur
Unterkunft oder nimmt mein Angebot an, eine Begleitung zu besorgen", erzählt De
la Torre.
Die soziale Betreuung gehört für die Ärztin zur Arbeit dazu. Neben Fachlektüre
steht daher eine dicke Sozialhilfe-Broschüre auf ihrem Schreibtisch. Sie
ermuntert ihre Patienten, aktiv zu werden, sich um die Verbesserung ihrer Lage
zu kümmern. Sie verhandelt mit Sozialämtern und vermittelt Termine.
De la Torre, die die Probleme ihrer Arbeit gedanklich mit nach Hause nimmt,
"ohne an einem Helfer-Syndrom zu leiden", wie sie scherzhaft anmerkt, ist sich
über die Grenzen ihres Wirkens im Klaren: "Fast alle Krankheiten kehren wieder,
solange die Ursachen dafür nicht beseitigt sind. Die eigentliche Therapie müßte
lauten: Weg von der Straße!"
Einen Wechsel in eine Klinik kann sich Jenny De la Torre trotzdem nicht mehr
vorstellen. "Meine Arbeit hier kennt keine Grenzen", sagte sie. Und dann
verweist sie auf den Namen der Trägerorganisation ihrer Praxis - MUT. "Genau das
will ich: den Menschen Mut machen."
Dr. Jenny De la Torre
wurde 1954 in Peru geboren. 1976 erhielt sie für ihr Medizinstudium ein
Stipendium in der DDR. 1982 absolvierte sie ihr Examen an der Universität
Leipzig. 1989 folgte dann ihre Facharztausbildung an der Charité zur
Kinderchirurgin und ihre Promotion am Klinikum Berlin-Buch. Danach war sie
zunächst in der Rettungsstelle des Krankenhauses Prenzlauer Berg und kurzzeitig
in Salzburg tätig.
Seit 1994 ist sie für die medizinische Versorgung der Obdachlosen in Berlin
zuständig. 1997 wurde der Ärztin das Bundesverdienstkreuz verliehen, in diesem
Jahr erhielt sie den Medienpreis "Goldene Henne". (npw)