Sechs Monate suchte ich nach obdachlosen Jugendlichen. Ich hörte mir viele
Geschichten an. Berichte von Misshandlung, Missbrauch, kaputte Seelen, Hass,
wenig Liebe, keine Zuversicht. Offiziell gibt es sie nicht. Die Sozialarbeiter
waren anfangs hilfreich. Sehr schnell hörte ich von Vorbehalten, von Ängsten,
man wolle die Kinder und Jugendlichen für Fernsehinteressen nicht verkaufen.
Ja, unsere Unterstützung akzeptiere man, auch weil an allen Ecken und Enden
gespart wird. Aber die Betroffenen zeigen - nein. Der typische Schutzmantel der
lieben Sozialarbeiter, so wie ich ihn kenne. Sie führen sich auf wie autoritäre
Eltern, entmündigen ihre Schützlinge. Ob die obdachlosen Jugendlichen bei ihnen
immer gut untergebracht sind? Die Frage stellte ich mir oft. Aber ich lernte
auch andere Sozialarbeiter kennen. Menschen, die kämpfen für die Kinder, gegen
die Mühlen der Ämter, den Unverstand.
Dr. Jenny de la Torre kümmert sich auch um Straßenkids
In so genannten Entwicklungsländern traf ich schon auf viele hundert obdachlose
Jugendliche. Aber doch nicht in Deutschland, im Herzen des europäischen
Wirtschaftswohlstandes, meinten viele Freunde erstaunt. Es gibt sie. Zu
Hunderten in jeder deutschen Stadt. Vor den Bahnhöfen, auf den Plätzen, in
U-Bahnhöfen. Bei uns sind es andere Gründe als in den Entwicklungsländern. Sie
sind bekannt. Dass Kinder zuhause rausgeschmissen werden, unvorstellbar. Die
Jugendämter kennen die Geschichten. Neue Ehepartner entledigen sich der
"Altlasten", leibliche Mütter und Väter zeigen keine Skrupel, schmeißen ihre
Kinder auf die Straße.
Ärztin kämpft für Straßenkinder
Eine neue Dimension der sozialen Verelendung. 14-, 15-Jährige, die von der
eigenen Mutter mit dem Messer aus der Wohnung gejagt werden. Ich habe sie
getroffen, die Eltern, die Kinder, die Geschwister. Es öffnete sich eine neue
Welt. Aber ich traf auch die, die für diese Kinder kämpfen: Dr. Jenny de la
Torre, eine Obdachlosenärztin aus Berlin. Seit Jahren weist sie auf die
schwierige Existenz der jugendlichen Obdachlosen hin. Fünf Prozent ihrer
Patienten sind unter 18. Prominente Politiker laden sie zu sich ein, hören sich
die Probleme an. Für Hilfe und Unterstützung musste sie aber viele Jahre hart
kämpfen. Aufgeben kommt für die engagierte Ärztin nicht in Frage.
Gedächtniskirche in Berlin - Ein Treffpunkt für Straßenkinder
Mitarbeiter von Sozialprojekten in Hamburg sind auch verzweifelt. Sie müssen
zuschauen, wie obdachlose Kinder am Hamburger Bahnhof anschaffen gehen. Von
irgendjemandem missbraucht. Mehr als eine warme Mahlzeit, eine Dusche, ein
beratendes Gespräch gelingt ihnen oft nicht. Es ist Blasphemie, wenn die Politik
das Problem dann negiert. Was nicht sein darf, existiert nicht.
Suche nach Liebe und Geborgenheit
Ich habe noch mehr gelernt. All diese Kinder haben eine Geschichte, es lohnt
sich ihnen zuzuhören. Sie suchen Liebe, Geborgenheit und erfahren Distanz,
Unverständnis. Für viele ein Grund zu provozieren, kriminell zu werden,
abzurutschen. Vor einigen Jahren musste ich nach Dreharbeiten erleben, dass sich
ein 18-jähriger obdachloser Junge vor die Gleise der Hamburger S-Bahn stürzte.
Björn hatte keinen Mut mehr. Sein Schicksal wurde kaum wahr genommen.
Hinter dem Lächeln steckt auch Verzweiflung
Saschas Pflegeeltern kämpfen. Sie versuchen zu verstehen, was in der Seele ihres
Sohnes vorgeht. Er soll runter von der Straße. Sie sind hilflos. All die Jahre
hielten sie sich an die Ratschläge von Psychologen und Psychiatern. Saschas
Schicksal ein Beleg für die Ohnmacht der Wissenschaft? Sascha sagt: "Ich brauche
keine Menschen, die mir in die Seele gucken und mir Geschichten von gestern
erzählen, die sie nichts angehen. Ich brauche jetzt Hilfe. Praktisch. Ich bin
nicht dumm, aber Ihr alle macht mich so mutlos. Warum versteht das niemand?"
von Peter Schmidt