Was bedeuten zehn Euro Praxisgebühr für die Deutschen? Dem einen tut es kaum
weh, der andere verzichtet auf einen Café- oder Kinobesuch - einigen aber bleibt
kein einziger Cent, auch nicht für das Essen. In der Diskussion um die zehn
Euro, die seit dem 1. Januar an der Arztpraxis gezahlt werden müssen, meldeten
sich bislang Ärzte, Patienten und Verbände lautstark zu Wort. Still blieb es um
die Obdachlosen, die ohnehin aus Scham Arztbesuche oft lange vor sich
herschieben.
"Ein Obdachloser, der auf der Straße lebt, bekommt pro Tag etwa 9,90 Euro. Wenn
er keinen festen Wohnsitz habt, muss er sich das Geld täglich abholen", erklärt
der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in
Bielefeld, Thomas Specht-Kittler. "Ein Obdachloser hat kein Sparbuch, sondern
lebt von einem Tag zum anderen." Bei einem Arztbesuch wäre das Geld eines ganzen
Tages weg, verschriebene Medikamente noch nicht bezahlt.
Lebt ein Wohnungsloser in einem Heim oder ist er anderweitig untergebracht,
bekommt er pro Tag nur knapp drei Euro Taschengeld, von dem neben persönlichen
Dingen auch Hygieneartikel - und eben die Praxisgebühr - bezahlt werden müssen.
Die Forderung der BAG W: nicht nur Wohnungslose, sondern alle
Sozialhilfeempfänger sollen von der Praxisgebühr befreit werden.
Die Berliner Obdachlosenärztin Jenny De la Torre befürchtet schlimme Folgen für
die Gesundheit der Wohnungslosen. "Die Leute können das Geld einfach nicht
bezahlen. Dabei sind die ärmsten Menschen die kränksten." Neben den Krankheiten,
die jeder andere Mensch auch habe, häuften sich bei den Wohnungslosen
Hautkrankheiten, Parasiten, Lungenerkrankungen und Alkoholismus.
"Kein Mensch wartet auch mit schweren Schmerzen so lange mit dem Gang zum Arzt
wie Obdachlose", sagt De la Torre. Mit den zehn Euro würden die Hürden noch sehr
viel höher. Dazu kämen die Zuzahlungen für Medikamente. Die Ärztin sieht die
Menschenrechte bedroht, wenn der Zugang zum Gesundheitssystem so erschwert wird.
Mit einer Stiftung will De la Torre in Berlin ein Gesundheitszentrum für
Obdachlose einrichten, in dem nach Möglichkeit keine zehn Euro gezahlt werden
müssen.
Im baden-württembergischen Offenburg haben in den vergangenen Tagen die ersten
Obdachlosen demonstriert. Mit Flugblättern versuchten sie, auf ihre schwierige
Lage aufmerksam zu machen. "Wer arm ist, stirbt früher" und "80 Prozent der
Obdachlosen gelten als so krank, dass sie dringend einen Arzt besuchen sollten",
hieß es darauf. Die Landesarbeitsgemeinschaft wohnungsloser Menschen hat
gleichzeitig an die Bundesgesundheitsministerin appelliert, "die medizinische
Qualität der Versorgung wohnungsloser Menschen" sicherzustellen. Über einen
Protest in Berlin werde nachgedacht, sagte der Vorsitzende der Initiative,
Wolfgang Jeckel.
Nach Schätzungen der Wohnungslosenhilfe gab es im Jahr 2002 in Deutschland etwa
330.000 wohnungslose Menschen.
Dörthe Hein, dpa